Sozialpolitik

Sozialpolitik
1. Begriff: Politik zur Lösung „sozialer Probleme“, die aus der  gesellschaftlichen Schwäche der Lebenslagen von Individuen und Personenmehrheiten (Klasse, Gruppe etc.) resultieren ( Theorie der Sozialpolitik).
- 2. Begründung: Für S. und die übergeordneten Prinzipien sozialpolitischen Handelns lassen sich aus gesellschaftlichen Oberzielen und grundlegenden Ordnungsregeln herleiten. Schließlich kann in der Bundesrepublik Deutschland auf das Sozialstaatsgebot der Verfassung (Art. 20 und 28 GG) zurückgegriffen werden, um die S. zu rechtfertigen.
- 3. Instrumente: a) Handlungsmöglichkeiten: (1) Die als Reaktion auf die Soziale Frage des 19. Jh. entstandene praktische S. verfügt grundsätzlich über das gesamte Instrumentarium einer politischen Intervention in das gesellschaftliche Geschehen. Der Katalog der Mittel der S. reicht von der reinen Information und Beratung, der sozialpädagogischen Betreuung (Sozialarbeit) und der politischen Überzeugung (Moral Suasion) über die rechtlichen Möglichkeiten der Regulierung privater Entscheidungen und Verträge zu den fiskalischen Mitteln der Zwangsabgaben einerseits und der Transfers an Haushalte bzw. der  Subventionen an Unternehmen andererseits, einschließlich der staatlich organisierten Güter- und Dienstleistungsangebote ( Realtransfers).
- (2) Im Vergleich zur praktischen Wirtschaftspolitik dürfte dieses Instrumentarium nur am Rande von den in der Wirtschaftsstrukturpolitik eingesetzten Mitteln abweichen, z.B. auf den individualisierten Gebieten der Jugendhilfe und der  Sozialhilfe in besonderen  Lebenslagen. Daher können auch Aussagen der Lehre von den Instrumenten der Wirtschaftspolitik weitgehend übertragen werden. Bei den rechtlichen Möglichkeiten der Einschränkung von Handlungs- und Vertragsfreiheiten (Regulierung i.e.S.) kann bes. auf den Bedarf an staatlicher Kontrolle zur Einhaltung sozialpolitischer Normen, z.B. beim Arbeitnehmerschutz (Gefahren- und Betriebsschutz, Kündigungsschutz, Schutz besonderer Arbeitnehmergruppen), beim Mieter- und Verbraucherschutz oder bei Umweltgeboten und -verboten, hingewiesen werden.
- b) Wirkungen: Bei Transfers und Subventionen besteht neben der Möglichkeit von Mitnahmeeffekten und Gewöhnungseffekten wie bei Zwangsabgaben die Gefahr einer Überwälzung, so dass Zahlung bzw. Zahlungsempfang und reale  Inzidenz einer Belastung oder einer Begünstigung nicht überein zu stimmen brauchen.
- Die Analyse der Marktkonformität und der Systemkonformität kann für die Mittelauswahl der sozialpolitischen Mittel im Rahmen der  Sozialen Marktwirtschaft eine Präferenz für (1) generelle gegenüber speziellen Regulierungen, (2) indirekte (in Bezug auf Marktdaten, Anreize, Abschreckung) gegenüber direkten Interventionen in Marktelemente (z.B. Mengen, Preise) sowie (3) weniger intensive (Information, Beratung) gegenüber intensiven Mitteln (Gebote/Verbote) bestimmen. Darüber hinaus verweist die Analyse der Systemkonformität auf die Gefahr einer kumulativen Systemgefährdung oder Systemauflösung infolge der Wirkungsinterdependenzen von im einzelnen vielleicht systemverträglichen politischen Interventionen.
- Häufig werden die mit der S. verbundenen ökonomischen Effizienzverluste in Folge von Anreizproblemen und Zusatzkosten ( Excess Burden) jedoch mit einem theoretischen Ideal ( Wohlfahrtsoptimum, vollständiger Wettbewerb) verglichen. Diese Abweichung vom marktwirtschaftlichen Ideal wird oft schon als ausreichender Nachweis dafür akzeptiert, dass S. insgesamt eine Belastung (Kosten) und eine Gefahr für die Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft darstelle. Demgegenüber wird auf den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wert der S., v.a. auf den Beitrag der S. zur Produktivität der Wirtschaft (z.B. als Wirtschaftsgrundlagenpolitik, bes. in Bezug auf den Faktor Arbeit) und zur Verbesserung der Gesamtleistungsfähigkeit des gesellschaftlichen Systems nur vereinzelt hingewiesen.
- 4. Entwicklung: Die Entstehung der modernen S. als Reaktion des Staates auf die Soziale Frage des 19. Jh. und die Lage des Industrieproletariats hat die Abhängigkeit des Problembewusstseins und der Problemlösungsbereitschaft des Staates von der Relevanz eines sozialen Problems für das Gesellschaftssystem verdeutlicht. Die Ausrichtung auf soziale Probleme, die die gesamte Gesellschaftsordnung und bes. das politisch-administrative System gefährden, hat der staatlichen S. von der  Bismarck'schen Sozialversicherungspolitik bis in die Gegenwart in Teilen der Arbeiterbewegung Kritik und auch Ablehnung eingebracht. Die Expansion der S. bis zur Weimarer Republik und nach dem Zweiten Weltkrieg über eine Schutzpolitik zur Ausgleichs- und gesellschaftsgestaltenden Politik im Sozialstaat wie in den  Wohlfahrtsstaaten folgt zum einen dem Wachstum des wirtschaftlichen Wohlstands. Ihre Entfaltung folgt zum anderen einer Dringlichkeitsabstufung sozialer Probleme, die den Vorstellungen von einer Hierarchie menschlicher Bedürfnisse entspricht. Zunächst werden Gefahren für Leben und Gesundheit, dann die Sicherung der Versorgung bei Grundbedürfnissen angegangen, bevor die S. zur Verbesserung des sozialen Status und des Spielraums zur Selbstverwirklichung übergeht (z.B. in der Mitbestimmung, der Bildungspolitik oder der Humanisierung der Arbeit). Bei wirtschaftlichen Strukturkrisen und in Rezessionsphasen bestätigt sich diese Interdependenz von S. und Wirtschaftspolitik unabhängig von der Ausrichtung der politischen Mehrheiten auch bei der Einschränkung der Expansion der S. oder bei der Rücknahme sozialpolitischer Entscheidungen. Literatursuche zu "Sozialpolitik" auf www.gabler.de

Lexikon der Economics. 2013.

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